(Nahezu) Jedes Jahr aufs Neue gibt es einen Termin, an dem deutsche ESC-Fans enttäuscht werden, zumindest wenn sie Ihr ESC-Fandasein auch darüber definieren für den deutschen Beitrag mitzufiebern. Dieses Jahr ist dieser Termin heute gewesen, die Pressekonferenz und choreographierte Vorstellung der deutschen ESC-Beiträge auf den sozialen Medien – welche immerhin solide durchexerziert worden ist, so weit unten sind die Erwartungen an das federführende NDR-Team – gerieten zum Fiasko. Angekündigt wurde die x-te Reform des Auswahlprozesses mit dem Versprechen nach dem Jendrikfiasko 2021 die Auswahl an die Zuschauer zurückzugeben mit der Leitlinie einen vielfältigen Vorentscheid zusammenzustellen. Warum dann allerdings die Adult-Contemporary-Radiowellen der lokalen ARD-Rundfunkanstalten entscheidend in die Auswahl der Vorentscheidteilnehmer eingebunden werden, ließ damals schon aufmerksame Fans aufhorchen. Heute hat sich dies bestätigt, zugunsten der Radiotauglichkeit – immerhin sollen alle Beiträge in den Wochen zum Vorentscheid Heavy Rotation erhalten – wurde die Vielfalt aufgegeben, weniger wohlwollend ausgedrückt, hat man diese in die Tonne getreten.

Es ist erschütternd erneut festzustellen, dass das Kreativteam wahlweise an satirisch nicht zu überbietender Inkompetenz leidet oder schlichtweg absichtlich eine deutsche Topplatzierung beim ESC sabotiert. Letzteres erscheint verschwörungstheoretisch und sollte man in diesen Zeiten eigentlich keinen Raum geben, allerdings hat der neue Unterhaltungskoordinator Beckmann diese selbst mit der überspitzten Aussage „Hauptsache nicht gewinnen“ im Interview mit der dwdl selbst losgetreten. Es scheint unbegreiflich, dass man die Erkenntnis gewonnen hat, sich diverser in der musikalischen Bandbreite aufstellen zu wollen (Eine Erkenntnis, die sich schon 2018 und 2019 angedeutet hat, 2021 sich maneskintiert hat), damit zu gewährleisten, jene Radiowellen in die Entscheidung einzubinden, die jenen austauschbaren Pop bis zum Erbrechen spielen, der außerhalb der Radioairplays keinerlei Erfolge mehr vorzuweisen hat. In den AC (Kurzform für Adult-Contemporary) Radios ist nur Platz für den kleinsten gemeinsamen Nenner, Musik, die alle irgendwie hören können, wird gespielt anstelle von Kontroversen Genres wie Deutschrap, Schlager oder Techno. Natürlich sind auch innerhalb dieses Spektrums sehr erfolgreiche Künstler zu finden, die allerdings ihre Schattierung des Pops so sehr beherrschen und mit der eigenen Note anreichern, dass sie auch auf Konzerten ziehen. Wenn man sich unter dem Gesichtspunkt der Radiotauglichkeit die Songs für den diesjährigen Vorentscheid anschaut, muss man erkennen, dass sie dafür größtenteils vollkommen in Ordnung sind. Allerdings sind sie dermaßen auf Airplay poliert, dass die Songs sich durch die drei Minuten mutlos durchstampfen, mit „Überraschungen“ die wahlweise abgestanden oder schlichtweg von erfolgreichen internationalen Artists vollkommen kopiert sind. Kompositorische Eigenheiten, die große Popmusik zu genau jener machen, fehlen ebenso wie charismatische Persönlichkeiten, die Songs auf eine höhere Ebene heben können.

Die wohl beste Komposition aus den sechs Songs „Soap“, gesungen von Emily Roberts scheitert genau an jenen Punkten, um über das bräsige Mittelmaß hinaus zu kommen. Roberts wird seit einiger Zeit von Ihrer Plattenfirma ins Haifischbecken Musikmarkt geworfen, um immer wieder zu floppen. Für „Soap“ erfindet sie sich neu, der Song ist hörbar inspiriert vom us-amerikanischen Kometenaufsteiger Olivia Rodrigo. Arrangement und Struktur erinnern an deren Pop-Rock-Banger „good 4U“, versetzt mit Melodien, die man so bei der frühen Taylor Swift oder der in Deutschland nahezu unbekannten Grammygewinnerband Lady Antebellum, deren Glanzzeit mit dem Beginn von Swifts Karriere zusammenfällt, schon gehört hat. Der us-amerikanische Einfluss auf die Produktion manifestiert sich im Musikvideo, in dem die 28-Jährige Roberts den Kleidungsstil der zehn Jahre jüngeren Rodrigo mangels eigener künstlerischer Identität kopiert und welches auch noch in Los Angeles gedreht worden ist. Selbst wenn „Soap“ jene Qualität der hochwertigen Vorbilder hätte, würde das zum Problem werden. Bis auf die gefühlvolle Countryballade „Calm after the Storm“ von den Common Linnets 2014 wurde jeglicher zu deutlich aus den Staaten inspirierte Beitrag beim ESC in den letzten Jahren beim Televoting abgestraft.

Die anderen Songs ähnlich detailliert zu besprechen, lohnt kaum. Einerseits sind die Beiträge in ihrer farblosen Mittelmäßigkeit kaum der Rede wert, andererseits sind die teilnehmen Künstler die letzten, die zur Zielscheibe werden sollten (Bei allem berechtigten Frust in der ESC-Fan Bubble ist dies auch dort deutlich zu spüren gewesen). Anhand des Starterfelds lässt sich kein Favorit ausmachen, selbst der mit im aktuellen Sprachgebrauch als cringe zu bezeichnendem Songtext lavierende „Hallo Welt“ von Nico Suave & Team Liebe, von historisch interessierten ESC-Fans als „Atlantis 2000“-Reloaded betitelter Beitrag, kann im Bewertungsverfahren für den auf die Drittwellen und ONE aufgeschobenen Vorentscheid (eine weitere Bankrotterklärung der ARD) am 4.3 sich Chancen auf die ESC-Teilnahme ausrechnen. Das seit 2018 angewendete Verfahren mithilfe einer sogenannten Eurovisionsjury, bestehend aus 100 ESC-Fans, die sich dafür bewerben konnten und einer internationalen Fachjury zu operieren, wurde für 2022 gestrichen. Als Grund kann der NDR nennen, dass 2021 diese Jurys den deutschen Vertreter Jendrik, der wie ein Zehntklässler unter gestandenen Acts am ESC-Finaltag wirkte, ausgewählt worden ist. Leaks lassen sich allerdings so lesen, dass unter den vom NDR gewünschten Bewertungskriterien Jendrik, der als einziger eine fertige Performance präsentieren konnte, die dann zum Finale hin ausgetauscht worden ist, bevorteilt war. Unvergessen wie der beschwipste Jendrik am Finalabend zugab mit einem Song und Gesamtpaket angetreten zu sein, mit welchem er gute Chancen bei der internen Auswahl hatte und wusste, dass dies beim ESC-Finale nicht zu wiederholen sei. Es erscheint für mich unmöglich zu glauben, dass dieses Verfahren mit den beiden Jurys das Problem darstellt, da die im neuen Jahrtausend chronisch erfolglose Schweiz damit zuletzt zwei Top Fünf Platzierungen mit vollkommen unterschiedlichen Interpreten und Liedern holen konnte. Ganz abgesehen davon, dass dasselbe Verfahren 2018 Michael Schulte (damals auch durch das Televoting im Vorentscheid legitimiert), hervorgebracht hat und 2019 einen soliden Vorentscheid, den der NDR selbst mehrere Geschmäckle gab (das zulassen einer Wildcard, die Setzung dieser auf den letzten Startplatz, eine fragwürdige Besetzung in der internationalen Expertenjury), wodurch der Gewinnerbeitrag bei Fans einen schweren Stand hatte, den er unterstützt von der stümperhaften Hinführung des NDRs zum ESC hin nie abschütteln konnte. 2020 hätte dann das Jahr werden können, das bewiesen hätte, das 2019 ein Ausrutscher war. Ben Dolic „Violent Thing“ war ein markanter Dance-Popsong, der jenen Spagat schaffte, den die diesjährige Auswahl vermissen ließ, radiotauglich und dennoch mit der benötigten Prise Eigenständigkeit, wodurch auch das mangelnde Charisma des in der Kopfstimme besonders begabten Slowenen kaschiert werden konnte, bis in der NDR-Ersatz-ESC-Show Dolic mit dem Auftritt sich dem Publikum stellte, der in Rotterdam hätte starten sollen. Spätestens dort zeigte sich der Hang der Entscheider in den Gremien zu Überkompensation. 2020 wurde das Televoting samt Vorentscheid gestrichen, da dies ja den bei den Fans ungeliebten Song knapp beschlossen hatte, für 2021 wurde die Live-Performance derart hoch gewertet, dass ein Song, der besser in die ESCs Ende der 2000er gepasst hätte und dort auch eine 50/50-Chance gewesen wäre, sich durchsetzen konnte. Für 2022 wurde dann die Radiotauglichkeit hoch gewichtet, möglicherweise mit der Denkweise, dass Radioeinsätze das Commitment zum eigenen Beitrag erhöhen, allerdings wurde in der bürokratisch-öffentlich-rechtlichen Denke vergessen, dass Radioeinsätze normalerweise organisch wachsen, weswegen auch Michael Schultes „You Let Me Walk Alone“ erst nach dem ESC zu einem Radiohit wurde. Dafür wurde der Punkt des Besonderen, der zuvor richtig erkannt worden ist und sich im Ergebnis des 2021er ESCs überdeutlich zeigt, über Bord geworfen. Das hätte sich ausgehen können, hätte man wie 2020 bei den Songs den Spagat aus radiotauglich und eigenständig erreicht. Auch 2022 ist es möglich, dass ähnlich wie 2015 ein radiotauglicher Dance-Pop Song den ESC gewinnt, aber der muss dann aber auch in allen Bereichen, angefangen von der Komposition über die Produktion, über Interpreten/-innen bis hin zur Vorbereitung und Umsetzung des Auftritts am Finalabend höchste Qualität aufweisen. 2020 und 2021 hatten die Litauer The Roop solche Songs zur Hand, dass sie 2021 „nur“ Achte worden, lässt sich mehr auf die Dynamik in der Finalwoche schieben als auf die Qualität des Acts und Ihres Songs. Auch des ist ein Fakt, der sich in den letzten Jahren deutlich zeigt: Ein siegfähiges Paket kann auch „nur“ einen TopTen-Platz holen. Auf Nummer sicher zu gehen, wird nicht belohnt werden, dies sollten aber auch deutsche Beiträge aus den Jahren 2013 und 2017 bewiesen haben.

Sicher darf nicht außer Acht gelassen werden, dass der Fanaufschrei ein wenig geringer gewesen wäre, hätte die Trancecoreband Eskimo Callboy nicht ihre Teilnahme am nebulösen Auswahlverfahren öffentlich gemacht und mit „Pump It“ einen Song geliefert, der polarisiert und eigenständig ist und der sich nur Vorwerfen lassen muss, erneut auf das letzte Jahr überraschend erfolgreiche Rockschiene zu gehen. Ein Vorwurf, der allerdings absurd anmutet, wenn man sich vor Augen führt, wie im Laufe der Jahre gewisse Musikgenres in Fanforen abgefeiert werden und berücksichtigt wie vielfältig das Rock-/Metalgenre ist. Die Nicht-Berücksichtigung von Eskimo Callboy zugunsten der Six Shade of Radio Airplay Music, mutet ridikül an, zumindest wenn es der NDR ernst meinte mit den Worthülsen „vielfältiger Vorentscheid“ und wir wollen „wettbewerbsfähiger“ werden. Hätte es zumindest etwas außerhalb der klassischen Radiopopblase gegeben, das am 4.3 zum deutschen ESC-Beitrag gekürt werden könnte, ein zeitgemäßer Schlager, ein Hard Rock Song, eine auf die Tanzfläche getrimmte Housenummer, eine Gänsehautballade, ein Deutschrapsong, ein charmanter Retrosong oder irgendwas was aus dem hier präsentierten Rahmen fällt, wäre die Fanwut wohl zumindest heute verhindert worden. So wird hier ein Line-Up aus sechs Songs präsentiert, deren Unterschiede zumindest für unaufmerksame Zuhörer allenfalls bei den Stimmen und den bevorzugt gewählten Instrumenten liegt. Dem Ganzen die Krone aufgesetzt wird dem ganzen durch die unmotivierte Streichung der Jurys zugunsten eines Online-Votings vor dem eigentlichen Vorentscheid, der die Hälfte der Stimmen ausmachen wird.

Im Grunde genommen zeigt sich, dass die Probleme des Auswahlprozesses viel tiefer liegen und durch seltsame Wechselstimmungen von Jahr zu Jahr allenfalls verschlimmbessert werden. Angefangen von der arroganten Kommunikationsstrategie des NDRs O-Ton: „Wir kommunizieren, wenn es etwas zu kommunizieren wird“, über das unstete Ausprobieren neuer Vorentscheidsformate, die man sich selbst kaputt macht (bspw.: 2004 und 2019), bis hin zu der Ahnungslosigkeit bei der Auswahl der Beiträge, schafft man es nicht wie in anderen Ländern ein System zu etablieren, das grundsätzlich abrufbar ist. Dabei muss man sich gar nicht Italien und Schweden zum Vorbild nehmen, deren Vorentscheide derart ausufernde Fernsehmusikfestivals sind, dass sie in ihrer institutionellen Stellung dem ESC weit überlegen sind. Es reicht anzuschauen, welch abwechslungsreiche und qualitativ und quantitativ wertigen Vorentscheide – welche auch immer wieder angepasst werden, an die organischen Veränderungen des Mutterwettbewerbs – in den baltischen Ländern veranstaltet werden. Diese sind auch keine Garantie für Topplätze beim ESC, die gibt es für niemanden, wie Schweden gerade qualvoll erfahren muss und bald auch Italien wieder erleben wird, aber sie schaffen ein größeres Commitment zum Eurovision Song Contest, dem größten Musikwettbewerb der Welt. Solange allerdings nahezu alljährlich am Tag der Auswahl des ESC-Beitrags bei den nationalen Fans die Gewissheit wächst, dass es auch dieses Jahr schwer wird sich nicht in den Bottom Five zu platzieren kann dieses ebenso wenig wachsen, wie Bereitschaft etablierter Künstler sich dem Vorentscheid zu stellen, wenn ihnen wie dieses Jahr formlose synästhesisch gesprochen graue Gesamtpakete vorgezogen werden. Solange diese Erkenntnis bei den handelnden Personen nicht einsetzt, wird es ein Roulette für deutsche ESC-Fans bleiben, ob wie mit Michael Schulte nochmal ein Glückstreffer gelingt. Ich bin für dieses Jahr jetzt schon geneigt zu sagen „rien ne va plus“, obwohl die bisher feststehende Konkurrenz abgesehen von Italien keinerlei Angst und Schrecken verbreitet (Dazu an späterer Stelle mehr). Vielleicht wenn ab jetzt alles richtig gemacht wird ist ein Platz zwischen 15 und 20 drinnen, aber das eine Mal wo dies in den letzten Jahren geschehen ist, hat ein gestandener Künstler allein sein Glück selbst in die Hand genommen und das er sang passend„You let me walk alone“.

14 Kommentare zu „Kommentar zur deutschen ESC-Vorentscheidauswahl: Die zu erwartende Enttäuschung

  1. Danke, sehr schön geschrieben mit vielen guten Punkten – vor allem der Hinweis, dass die sogenannten „Popwellen“ eigentlich AC spielen ist cool. Ich finde die Auswahl auch absolut vergessenswert und hab keine der Schnarchnummern zu Ende gehört. Das VE-Verfahren finde ich dieses Jahr auch besonders daneben; dass man es auch anders machen kann haben ja gerade die Spanier gezeigt.
    Ach ja, gebookmarkt!

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    1. Sechs Songs, die Teil eines zwanziger Vorentscheid sein dürfen und dort im Mittelfeld versanden, fechten es jetzt aus und ich habe sie alle zu Ende gehört und von den sechs ist keiner dabei, den ich nochmal hören würde. Bevor ich „Soap“ nochmal höre, höre ich lieber Olivia Rodrigo, da bekomme Ich das in gut. Wenn Radio, dann auch mit den jungen Wellen und selbst dann sage ich Abstand davon nehmen.
      Hätte gerne alle 26 Acts der Juryvorauswahl gesehen, da müssen bessere dabei gewesen sein. Spanien hat es besser gemacht, auch wenn der Song meiner Meinung nach Murks ist.
      Gebookmarkt?

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      1. Lesezeichen für Deinen Blog gesetzt!
        Spanien hatte im Gegensatz zu uns ne besser Auswahl an Genres und ein paar gute Songs. Ich habe eben noch mal versucht Rockstars zu hören, da das bei EK am meisten gelobt wird, hab aber wieder nach 1 1/2 Minuten weitergezappt. Immerhin sieht er gut aus, aber auch schon gefühlt tausend mal gehört.

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        1. Vielen Dank. Weiß nicht wie viel ESC Content dieses Jahr kommt, zumindest ein Überblick über alle Beiträge beim ESC ist in Arbeit.
          Spanien hatte eine reelle interessante Auswahl. Rockstars ist auch absolut dürftig und in dieser Auswahl bestenfalls die drittbeste Wahl.

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          1. Du hast ja den ESC hinaus noch ’n paar interssante Themen, muss mich da mal durchwühlen – danke auch für die persönlichen Einblicke in Deinem „Profil“.
            Komm, wir fragen in Spanien, ob wir Rayden haben können; San Marino schnappt sich ja auch Achille Lauro!

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              1. Ist bei mir genauso; wir teilen ja auch die Leidenschaft für (guten/s) Film/TV. Das Äquivelent zu den VE Songs wäre irgendeine Vorabendserie. Gottseidank gibt es besseres.

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